ERSTREBENSWERT? - SEXUALBERATERIN RäT: VERGESSEN SIE DEN GEMEINSAMEN ORGASMUS

Viele Menschen wünschen sich den gemeinsamen Orgasmus als Krönung ihres Liebesspiels. Doch erstaunlich wenig Paaren gelingt er. Sexualberaterin Regina Heckert beschreibt die Voraussetzungen und den Weg für gemeinsames Orgasmusglück.

Eigentlich muss man das Orgasmusthema an der Wurzel behandeln. Denn für viele Frauen ist der Orgasmus das Kummerthema im Bett. Manche bekommen gar keinen Orgasmus, andere nur bei klitoraler Stimulation.

Bei der sexuellen Vereinigung sind es laut Studien nur noch 4 bis 12 Prozent der Frauen, die ohne Zusatzstimulation der Klitoris den Höhepunkt erreichen. Bevor also der gemeinsame Orgasmus überhaupt anvisiert werden kann, müssen erst einmal die Bedingungen dafür geschaffen werden.

Was ist ein gemeinsamer Orgasmus?

Hinter der Sehnsucht nach einem gemeinsamen Orgasmus steckt der Wunsch, ganz und gar mit dem Partner zu verschmelzen - und zwar in einer Art Symbiose, die beide das himmlische Gefühl des Höhepunkts simultan erleben lässt. Es ist der Traum von einem tiefgreifenden Einheitserlebnis und einer noch innigeren Verbindung miteinander.

Deshalb soll das ersehnte I-Tüpfelchen der Lust bei der sexuellen Vereinigung passieren – am liebsten ganz von selbst. Kaum jemand versteht unter dem gleichzeitigen Orgasmus, dass sich beide – nebeneinander liegend – selbst befriedigen und sich so abstimmen, dass die Orgasmen im gleichen Moment ausgelöst werden. Diese Variante wäre für viele Menschen eher unromantisch.

Aber auch sie würde schon einige Anforderungen an die sexuelle Offenheit der Beteiligten stellen. Meine langjährige Erfahrung als Sexualberaterin und Tantralehrerin zeigt, dass nur wenige Frauen bereit wären, ein solches Experiment zu wagen. Die Schamgrenzen stehen häufig noch im Weg.

Welche Voraussetzungen braucht man für einen gemeinsamen Orgasmus?

Für das gemeinsame Gipfelerlebnis im Schlafzimmer sind sowohl sexuelle als auch kommunikative Fähigkeiten von entscheidender Bedeutung. Die erfreuliche Nachricht: Jede dieser Kompetenzen lässt sich durch gezieltes – und mitunter äußerst lustvolles – Training erlangen.

1.    Kommunikation während des Liebesspiels

In der Regel wird über sexuelle Erfahrungen eher zurückhaltend gesprochen, insbesondere während des Akts selbst. Doch genau hier liegt häufig das Problem: Ein Mangel an offener Kommunikation kann die Chancen auf einen gemeinsamen Orgasmus drastisch mindern. Natürlich können Liebende versuchen, die Bedürfnisse ihres Partners allein anhand von Körpersignalen zu interpretieren. Doch ehrlich gesagt, wie genau ist dabei die Trefferquote?

Wer jedoch beginnt, nach dem Liebesspiel ausführlich über das Erlebte zu sprechen, kann bald schon hilfreiche Worte auch direkt ins Liebesspiel integrieren.

2.    Kontrolle des Orgasmus, insbesondere bei Männern 

Studien bestätigen, dass Männer deutlich schneller zum Orgasmus gelangen als Frauen – doch gelegentlich ist es auch umgekehrt. In jedem Fall sollte der „Schnellstarter“ nicht vergessen, auf das Tempo seines Partners Rücksicht zu nehmen. Es ist wichtig, nicht in die Situation zu geraten, in der einer kurz vor dem Höhepunkt steht, während der andere noch nicht einmal richtig auf Touren gekommen ist.

Sollte diese Situation dennoch eintreten, ist es ratsam, die Notbremse zu ziehen: Die Stimulation kann reduziert oder ganz unterbrochen werden. Wichtig dabei ist eine klare Kommunikation, damit der Partner nicht irritiert oder verunsichert wird. Für viele Männer gestaltet es sich am Anfang nahezu unmöglich, inmitten der extremen Erregung ihrer Partnerin nicht zu ejakulieren.

3.    Gegenseitige Rücksicht und Einfühlung

Ein zentraler Aspekt ist es, sich gegenseitig keinen Druck zu machen. Die Erfahrung darf spielerisch sein. Ob das gewünschte gemeinsame Höhepunkt-Erlebnis heute gelingt oder nicht, sollte nicht zur Belastung werden. Jeder achtet auf die eigene Lust und auf die Signale oder Worte des Partners und versucht in diesem Wechselspiel einen gemeinsamen Lustnenner zu erreichen. Wer schon weiter fortgeschritten ist, kann seinen Partner liebevoll und lustvoll ermutigen, auf der Orgasmusleiter weiter nach oben zu klettern. Wessen Lustbarometer eher unten steht, der darf den anderen bitten, langsamer zu werden und zu warten.

4.    Orgasmusfähigkeit beim vaginalen Verkehr

Gemäß den oben erwähnten Studien ist die Fähigkeit zum Orgasmus beim vaginalen Verkehr eine der anspruchsvollsten Voraussetzungen für das gemeinsame Orgasmusglück. Wenn jedoch beide Partner während des Geschlechtsverkehrs zum (bis jetzt getrennten) Höhepunkt gelangen können, stehen die Chancen gut. Ist das nicht der Fall, gilt es, weiter an der sexuellen Entwicklung zu feilen. Personen, die grundsätzlich noch mit Orgasmusproblemen zu kämpfen haben, sollten sich zunächst darauf konzentrieren, diese zu lösen, und ihre Erwartungen nicht zu hoch anzusetzen.

So funktioniert der gemeinsame Orgasmus

Stellen Sie sich vor, es gibt einen Lustpegel von 0 bis 100. Bei 0 herrscht absolute Lustlosigkeit, während 100 den Orgasmus markiert. Zwischen diesen Extremen verläuft das normale Liebesspiel mit seinen Höhen und Tiefen. Manchmal erreicht man den Gipfel, manchmal nicht.

Es ist eigentlich leicht wie ein Kinderspiel, den gemeinsamen Orgasmus zu erleben, wenn die vier Grundvoraussetzungen vorhanden sind. Während der gesamten Liebeszeit halten sich die Partner über ihren Pegelstand auf dem Laufenden. Dabei hilft natürlich kein Messgerät. Es ist jeweils ein geschätzter Pegelstand. Und der wird kommuniziert. Wenn ein Partner sagt: „Ich bin bei 80!“, darf der andere nicht verschweigen, dass er erst bei 20 ist.

Ehrlichkeit ist hier unerlässlich, damit beide wissen, woran sie jeweils sind. Orgasmusvortäuschern winken hier keine Lorbeeren. Wenn die Unterschiede zwischen den Lustpegeln groß sind, können aufmunternde Worte oder bewährte Techniken dazu beitragen, das Lustniveau des Partners zu erhöhen, während das eigene ein wenig zurückgefahren wird. So nähern sich beide gemeinsam einem Lustpegel von 95 an, was bereits kritisch werden kann. Wer die Kontrolle über seinen Orgasmus nicht beherrscht, läuft Gefahr, von einer Lustwelle mitgerissen zu werden – und damit ist der gemeinsame Orgasmus für heute erst einmal vom Tisch.

Wenn es beiden gelingt, miteinander bis auf 99 zu kommen, geben sie sich ein Zeichen: Es ist Zeit, loszulassen. Und dann geschieht es. Klingt nicht nur einfach, sondern ist es auch.

Ist gleichzeitig auch gemeinsam? Das Dilemma

Die wissenschaftliche Evidenz zum Thema gemeinsamer Orgasmus ist dünn gesät – und das aus gutem Grund. Zunächst einmal sind – wie oben erwähnt - ja nur etwa 4 bis 12 Prozent der Frauen in der Lage, einen vaginalen Orgasmus zu erreichen. Von diesen dürfte es wohl nur einem äußerst kleinen Teil gelingen, einen gemeinsamen Höhepunkt zu erleben. Und von diesem winzigen Anteil kommt vermutlich kaum jemand auf die Idee, zu überprüfen, ob es ein wirklich gemeinsames Erlebnis gab. Somit bleibt die Beweislage hier äußerst spärlich, und wir sind auf wenige Rückmeldungen angewiesen.

„Nachdem ich einen wunderbaren, tief erfüllenden und scheinbar endlosen Orgasmus mit meinem Partner erlebt hatte, schwebte ich auf Wolke Sieben. Es war unglaublich, eine solch intensive Erfahrung miteinander teilen zu können. Lange Zeit genoss ich dieses Glück. Doch als ich später meinen Partner fragte, wie es ihm dabei ergangen sei und wie sein Orgasmus sich angefühlt habe, antwortete er schlicht: 'Ach, das war eher durchschnittlich. Nichts Besonderes.' In diesem Moment brach für mich eine Welt zusammen, und ich begann sogar, meine eigene Erfahrung zu hinterfragen. Doch nein, ich hatte zweifellos einen überwältigenden Höhenflug erlebt, der noch lange nachhallte.“ (Iris, 45 Jahre)

Weitere ähnliche Erfahrungsberichte deuten darauf hin, dass es keinen „gemeinsamen“ Orgasmus gibt, bei dem beide Partner dasselbe erleben. Vielmehr hat jeder seinen eigenen Orgasmus in unterschiedlichsten Ausprägungen. Es mag gelingen, dass die Orgasmen fast zeitgleich beginnen, aber sie sind dennoch individuell. Dies liegt auch an der unterschiedlichen Zeitspanne: Der männliche Orgasmus dauert nur wenige Sekunden, während die Frau bis zu vierzig Sekunden im Lusthimmel verweilen kann. 

Lohnt sich das Ganze?

Rein logisch betrachtet scheint die Situation klar: Jeder Partner strebt danach, dem anderen optimale Lust zu bereiten. Beide Liebenden sind sich bewusst, welche Art von Stimulation, Bewegung und Berührung der andere benötigt, um einen wunderbaren Orgasmus zu erleben. Doch in der Regel sind dies nicht unbedingt dieselben Lustbereiter, die der andere bevorzugt. Folglich befindet sich derjenige im Nachteil, der seine eigenen Vorlieben zugunsten des Partners zurückstellt.

„Gemeinsamer Orgasmus? Haben wir probiert. Aber viel lieber genieße ich den Orgasmus meiner Frau. Anschließend kann ich mich dann ganz meinem Orgasmus hingeben.“ (Karl, 56 Jahre)

„Ich finde einen gemeinsamen Orgasmus nicht besonders erstrebenswert. Wenn mein Partner kommt, möchte ich mich auf ihn und seinen Orgasmus konzentrieren und danach dann auch ganz auf mich.“ (Stefanie, 48 Jahre)

„Es kam schon gelegentlich vor, dass mein Partner und ich gleichzeitig gekommen sind. Aber dabei konnte ich weder seinen noch meinen Höhepunkt richtig genießen.“ (Susanne, 36 Jahre) 

Die wenigen Befragten bestätigen übereinstimmend, dass sie es vorziehen, nacheinander für den jeweils anderen da zu sein, was den Orgasmus betrifft. Auf diese Weise können beide optimale Lustempfindungen genießen, ohne gleichzeitig auf möglicherweise unterschiedliche Bedürfnisse Rücksicht nehmen zu müssen.

Letztendlich kann jeder individuell entscheiden, ob sich der gemeinsame Orgasmus lohnt. Was sich jedoch in jedem Fall auszahlt, ist die kontinuierliche Entwicklung der oben genannten vier Voraussetzungen. Diese vertiefen und bereichern die Beziehung auf vielfältige Weise.

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