„ES LOHNT SICH, FüR SIE AUFZUHöREN“: SELBSTHILFE FüR SUCHTKRANKE RüCKT BEGLEITUNG ANGEHöRIGER IN FOKUS

Kassel

„Es lohnt sich, für sie aufzuhören“: Selbsthilfe für Suchtkranke rückt Begleitung Angehöriger in Fokus

Die Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe mit Sitz in Kassel rücken die Begleitung Angehöriger in den Fokus. Zwei Betroffene aus dem Vorstand erzählen, warum das so wichtig ist.

Kassel – Wie wichtig die Familie im Kampf gegen Suchterkrankungen ist, wissen Elisabeth Stege und Ralf Vietze aus erster Hand. Beide engagieren sich heute bei den Freundeskreisen für Suchtkrankenhilfe – eine Selbsthilfe-Organisation, deren Bundesverband seit 1980 in Kassel ansässig ist.

Beide sind in ihrer Vergangenheit alkoholabhängig gewesen – und hätten ohne die Unterstützung ihrer Angehörigen den Absprung nicht geschafft, sind sie sich sicher.

Ralf Vietze kommt aus Wirges in Rheinland-Pfalz. Aufgewachsen ist er in einer Familie, die durch die Suchterkrankung seines Vaters geprägt war. Auch er war alkoholabhängig. „Ich habe immer gesagt, dass ich niemals so wie er werde. Passiert ist es trotzdem“, sagt der 65-Jährige.

Laut Sina Limpert, Suchtreferentin beim Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe in Kassel, kommt es häufig vor, dass Kinder, die in einem von Suchterkrankungen geprägten Haushalt großwerden, später selbst einmal mit Abhängigkeiten zu tun haben. „Die Kinder von Suchtkranken werden irgendwann erwachsen – und sie tragen die Last bis ins hohe Alter mit sich“, sagt Limpert. So auch Ralf Vietze.

Im jungen Erwachsenenalter fing es an. Über 30 Jahre lang trank er immer mehr Alkohol. Schließlich herausgeholfen hat ihm seine Frau: „Sie knüpfte für mich den Kontakt zum Hausarzt, sie hatte ihm alles erzählt. Er kam auf mich zu, und ich begann eine Therapie.“ Ralf Vie-tze war zwölf Wochen stationär in einer Klinik.

„Danach dachte ich: Ich weiß alles, ich kann alles. Aber so war es nicht.“ Er wurde rückfällig. Doch so konnte es für die Familie nicht weitergehen: „Meine Frau stellte mich vor die Wahl: Sie, die Kinder und meine Enkel – oder der Alkohol. Ich musste nicht überlegen.“ Die Wahl fiel auf die Familie. Ralf Vietze suchte Rat bei anderen Betroffenen.

Zu einer Selbsthilfegruppe nahe seiner Heimat habe er sich nicht getraut hinzugehen. Zu groß war die Scham. Er stieß auf einen Freundeskreis, einige Kilometer entfernt von seinem Zuhause. Es ist einer von deutschlandweit 330 Freundeskreisen.

Diese halten insgesamt mehr als 500 Selbsthilfegruppen vor, in der Region gibt es neben dem Freundeskreis in Kassel auch einen in Witzenhausen/ Hessisch Lichtenau und in Südniedersachsen.

Hohe Betroffenen-Zahlen in Kassel

Die meisten Suchtdiagnosen werden hessenweit in Kassel gestellt. Das zeigt eine Erhebung der Barmer-Krankenkasse. Die Diagnoserate lag im Jahr 2021 in Kassel bei 26,1 je 1000 Menschen. Der Werra-Meißner-Kreis verzeichnet einen ähnlich hohen Wert (26/1000). Im übrigen Land ist die Zahl der Betroffenen deutlich niedriger, der hessische Durchschnitt beträgt 16,5 je 1000 Menschen. Die hohe Zahl an Behandlungen bedeute jedoch nicht, dass es hier mehr Suchtkranke gebe als in anderen Regionen, sagt Prof. Dr. Martin Ohlmeier, Ärztlicher Direktor des Ludwig-Noll-Krankenhauses: „Das suchttherapeutische Angebot in Kassel ist sehr gut, sodass sich auch relativ viele Betroffene in Behandlung begeben.“ Suchterkrankungen mit Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch treten unter Beschäftigten im Gast- und Baugewerbe häufiger auf als in anderen Berufen, zeigt die Studie außerdem.

„Meine Frau und ich sind damals gemeinsam dorthin gegangen – und bis heute geblieben. Das gibt mir Kontinuität und Sicherheit.“ Mit seinem Engagement will er der Gruppe etwas zurückgeben: „Die Gruppe hält mich bis heute davon ab, an Suchtmittel zu denken“, sagt er.

Auch Elisabeth Stege ist durch ihren Ehemann zum Freundeskreis gekommen. „Er und meine Töchter haben mitgelitten. Irgendwann hat er mir den Flyer unter die Nase gehalten“, sagt die dreifache Mutter aus Wunstorf in Niedersachsen und betont, in den Schwangerschaften nie getrunken zu haben. In der Zeit dazwischen sei sie aber nur mit einer Flasche Wodka durch den Tag gekommen.

Der Alkohol kam schnell und exzessiv in ihr Leben, blieb aber nur wenige Jahre. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist sie bereits trocken. Für ihre Familie sei diese Zeit dennoch eine große Herausforderung gewesen, so die 60-Jährige.

„Mein Mann muss auch bei sich bleiben, er darf nicht nur für mich da sein. Da hat ihm der Freundeskreis enorm geholfen“, sagt Elisabeth Stege. Mit ihrem Mann geht sie bis heute in die Selbsthilfegruppe: „Unsere Angehörigen zeigen uns, warum es sich immer lohnt aufzuhören.“

DAK-Gesundheit fördert Projekt

Suchtreferentin Sina Limpert ergänzt: „Die Selbsthilfearbeit ist wichtig für die Angehörigen, damit sie auch sich selbst beschützen.“ Damit die Freundeskreise neben Betroffenen nun auch Angehörige noch besser begleiten können, fördert die Krankenkasse DAK-Gesundheit das Projekt mit einer Summe in Höhe von 51 450 Euro.

„Die Angehörigen stehen an erster Stelle, denn häufig bekommen sie die Anzeichen für eine Sucht am ehesten mit. Wir als DAK haben Vertrauen in die Arbeit der Freundeskreise, die mit geballter Kompetenz arbeiten“, sagt der Kasseler DAK-Chef Andreas Kohlrautz.

Mit der Fördersumme sollen Arbeitsmaterialien angeschafft sowie neue Plakate und Flyer gedruckt werden, um die Arbeit der Freundeskreise bekannter zu machen, heißt es. „Wir arbeiten bei Angehörigen präventiv, damit sie selbst gar nicht erst zum Betroffenen werden“, sagt Sina Limpert. (Anna Weyh)

Service: Der Freundeskreis Kassel trifft sich immer mittwochs und donnerstags, 19 bis 21 Uhr, im Aqua Pub, Frankfurter Str. 314 (nicht an Feiertagen). Mehr Infos: freundeskreis-kassel.de

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