Wie weit würden sie für die Schönheit gehen? Junge Männer auf der ganzen Welt entscheiden sich derzeit freiwillig für einen Kieferbruch – und bezahlen dafür viel Geld. Wieso? Das erfahren Sie hier:
Ali ist ein junger Mann in seinen Zwanzigern, der in Westeuropa lebt. Er läuft, ohne ein richtiges Ziel im Kopf zu haben, durch die Straßen Roms, er muss etwas Zeit totschlagen. Als er das letzte Mal in der Ewigen Stadt war, hatte er bereits einige der obligatorischen Sehenswürdigkeiten besichtigt: den Vatikan und das Kolosseum. Doch dieses Mal ist er zu nervös für Kulturprogramm. Denn morgen wird ihm der Kiefer gebrochen – und er bezahlt 20.000 Euro dafür.
Bis zu seinem Eingriff versucht Ali sich abzulenken. Deshalb spricht er auch mit mir. Es fühlt sich sicherlich etwas einsam an – so weit weg von zu Hause und nur ein paar Stunden von der Narkose entfernt. Wir reden über Zoom, seine Kamera ist allerdings nicht eingeschaltet. Wahrscheinlich ist er noch nicht bereit, mir sein Gesicht zu zeigen. Immerhin ist es ja noch die “Vorher”-Phase. Mit etwas Glück wird er morgen wie ein völlig anderer Mensch aussehen. Wie ein Mann mit einem sehr markanten Kiefer.
&Die medizinische Bezeichnung für die Eingriffe, denen sich Ali unterziehen wird, sind “bilaterale sagittale Spaltosteotomie”, “Le-Fort-I-Osteotomie” und “Genioplastik”. Verständlicher ausgedrückt bedeuten diese Wörter Folgendes: Nachdem die Chirurgen Alis Unterkiefer, Oberkiefer und Kinn gespalten haben, schrauben sie die Knochenteile wieder zusammen, um so Alis Kieferlinie neu zu gestalten – beziehungsweise zu verbessern.
Ali (nicht sein richtiger Name) wartet schon seit dem Jahr 2020 gespannt auf diesen Tag. In der Zeit der Pandemie und der Lockdowns fand er den Mut, Schönheitschirurgen zu kontaktieren. Doch die Idee war keine Neue. Schon sehr lange hatte er mit dem Gedanken, sich operieren zu lassen, gespielt. Angefangen hatte das bereits als Jugendlicher: Als Ali zum ersten Mal bemerkte, dass seine Freunde besser aussehend sind als er. Und im Gegensatz zu ihm hatten sie keine Probleme, Freund:innen zu finden. Er hingegen hatte Schwierigkeiten, Partnerinnen zu finden. Hässlich fühlte er sich zwar nicht, aber die Jungs um ihn herum schienen irgendwie eine andere Energie auszustrahlen. Die Gewinner der Gen-Lotterie im Alltag zu sehen und die Unterschiede zum eigenen Leben aus der Nähe mitzubekommen, war niederschmetternd für ihn. Noch mehr sogar, als einige seiner Freunde als Models gescouted wurden. Und dann kam noch das Onlinedating hinzu … dort zeigte sich die eiskalte Realität sehr greifbar und vor allem in Zahlen.
&Ali sieht sich selbst als den eher nachdenklichen Typ Mensch, er beschreibt sich als “philosophisch”. Im Teenageralter war er einer der schlauen Burschen, wenn auch etwas faul, dafür aber mit einem guten Gedächtnis und einem Auge für Details gesegnet. Ebendiese Qualitäten erwiesen sich bei seinem Karriereweg als sehr nützlich: Er ist Ingenieur. Im beruflichen Umfeld nutzt er diese Fähigkeiten besonders für die Aufgabenfelder der technischen Zeichnungen und der Baupläne. Die Vergänglichkeit der Zeit und der Stress des Berufslebens hinterließen allerdings irgendwann auch ihre Spuren im Gesicht Alis – nun ja, das tun sie ja durchaus bei uns allen.
Im Jahr 2019 wurde Ali dann auf die Website “Looksmaxing.org” aufmerksam und verbrachte immer mehr Zeit auf dieser. Dabei handelt es sich um ein Online-Forum, in dem Männer danach streben, ihr “ästhetisches Potenzial” zu erreichen und zu maximieren. Es ist ein Teil der Manosphere – dem Sumpf der Online-Communities, die ein Mix aus toxischer Männlichkeit, Frauenfeindlichkeit und Männerechten als Gedankengut an junge Männer vermarkten. Dort trifft man auf eine ganze Reihe von Influencern, Pickup-Artists und einfachen Provokateuren. Natürlich sind dort “Männer” wie Jordan Peterson oder auch der selbst ernannte Frauenhasser Andrew Tate groß vertreten. Es sind Menschengruppen, die der Ideologie der “roten Pille” folgen – eine Matrix-Referenz. In dem Film entscheidet sich Neo gegen die blaue und für die rote Pille. Dadurch kann er dann die Welt plötzlich so sehen, wie sie wirklich ist. Im Gegensatz zum Rest der Menschheit, die eine künstliche Welt sieht und an die Realität dieser glaubt. Die Manosphere-Anhänger sind ebenfalls alle der Meinung, nur sie hätten den wahren Durchblick und alle anderen wären verblendet. Vor allem aber glauben diese Männer, sie wären durch die Machtverschiebungen dank des Feminismus nun benachteiligt. Und dies würde es ihnen unmöglich machen, Sexualpartner zu finden (Ja, wegen zu wenig Sex werden diese Männer scheinbar zu Frauenhassern). Frauen hingegen – so die verzerrte Logik – hätten nun das Privileg, sich die Rosinen herauszupicken.
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Meinung
Andrew Tate provoziert mit seiner hyper-toxischen Maskulinität um Klicks auf TikTok zu bekommen - und es funktioniert. Die wichtige Frage ist aber, warum so viele junge Männer darauf hereinfallen
Sogar noch gefährlicher als die “rote Pille”-Ideologie ist die der “schwarzen Pille” – es gibt wohl ein thematisches Muster bei der Namensgebung solcher Gedankengüter. Blackpillers glauben fest daran, dass jeder Aspekt des eigenen Lebens vom körperlichen Erscheinungsbild, also dem Gen-Glück, abhängt. Ihrem biologischen Essenzialismus zufolge sind Beziehung eine hauptsächlich primitive und Instinkt-basierte Transaktion. Während die Redpiller glauben, dass sie einen Partner dadurch anlocken können, indem sie das vermeintliche unterbewusste Verlangen der Frauen nach einem “Alpha”-Mann wecken – mit Geld oder dem sogenannten “Game” –, glauben die Blackpiller, dass diejenigen, die eine bestimmten Grad an Attraktivität nicht besitzen, absolut keine Chance haben.
Wie man es von einem Forum mit solchen Weltanschauungen erwarten würde, ist Looksmax.org voller rassistischer und sexistischer Beiträge. Es gibt allerdings auch detaillierte Hautpflege-Tipps und ausführliche Ratgeber zum Thema Darmgesundheit (die Website weist ihn ihrem Haftungsausschluss ausdrücklich darauf hin, dass sie keine Alternative zur medizinischen Beratung darstellt). Ali konnte sich jedoch nie mit den “Incels” (involuntarily celibate; zu Deutsch: unfreiwillig alleinstehend) identifizieren. Sie wären zu verzweifelt, sagt er, “die wahren Sorgenkinder”. Aber er fand die Diskussionen über den “Lookism” – Vorurteile aufgrund des Aussehens – durchaus überzeugend. Er begann sich in der Community aktiv zu integrieren, half bei der Zusammenstellung von Leitfäden und gab auch reichlich Ratschläge. Die Arbeit an sich selbst stimmte ihn optimistisch und die aktive Arbeit im Online-Forum war für ihn ein Empowerment. “Es ist eine Gemeinschaft von Menschen, die versuchen, besser auszusehen und sich dabei gegenseitig helfen”, meint er.
&"Wir wollen alle erfolgreich im Leben sein. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass man bessere Chancen hat, wenn man besser aussieht."- Ali
Das Forum wurde zu Alis Quelle für seine privaten Theorien über das Thema Aussehen. Ein Ort, an dem er Bilder von männlichen Models finden und diese dann auf der Suche nach gemeinsamen Nennern analysieren konnte. Er bemerkte, dass sie “bestimmte Züge, bestimmte Gesichtsstrukturen haben … man beginnt sich eine Datenbank im Kopf anzulegen.” Ali mag es gut auszusehen. Er geht ins Fitnessstudio, er ist nicht übergewichtig, er hat eine Hautpflege-Routine. Aber seine mentale Model-Datenbank wies ihn konstant auf seine – in seinen Augen – größten Schwächen hin. Sein Verdacht bestätigte sich, als er dann schlussendlich ein Foto von sich im Forum hochlud. Sein Profil? Unbefriedigend. Kieferpartie? Nicht definiert genug. Kinn? “Zu nah an meinem Hals.”
Mit der Zeit kam Ali dann zu der Überzeugung, dass das Aussehen eines Mannes nicht nur bei der Partnersuche entscheidend ist. Bei allen Aspekten des Lebens ist es seiner Meinung nach der ausschlaggebende Faktor, der zwischen Erfolg und Misserfolg entscheidet. “Wir wollen alle erfolgreich im Leben sein. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass man bessere Chancen hat, wenn man besser aussieht. Und ”besser aussehen" kann ein wirklich breit gefächertes Spektrum verschiedenster Gruppen beinhalten."
&Es schien, dass alles – von seinem Liebesleben bis zu seiner Karriere – durch eine Anpassung dieses Teils seines Gesichts verbessert werden könnte. Diese “paar Millimeter Knochen”, wie “Incels” oft jammern, entscheiden darüber, ob man heiß ist oder nicht. Also buchte er die Operation und boardete seinen Flug.
&Egal, ob Henry Cavill, George Clooney oder Robert Pattinson. Auf allen Medien-Plattformen werden Sie konstant Gesichter mit perfekt definierten Wangen- und Kieferknochen sehen. Hollywood-Filme, Modemagazine und sogar Reality-TV-Formate wie “Love Island” sind einfach voller Gesichts-Adonisse. Allesamt haben sie kantige Gesichter mit markant geformten Knochen, die so wirken, als könnte keine Faust ihnen Schaden zufügen.
Doch es war nicht immer so. Schauen Sie sich alte Fresken an, da werden Sie viel weichere Gesichtszüge als Schönheitsideal entdecken. Genauso wenig ist es ein globales Phänomen: In China und Korea ist der Trend gar komplett gegensätzlich. Dort lassen sich die Männer operieren, damit ihre Kieferpartien softer wirken – und fühlen sich dadurch dann männlicher. Dem Gesichtschirurgen Hermann Sailer zufolge etablierte sich der heutige Schönheitssinn bei uns im Westen erst in den 1930er- und 40er-Jahren. Diese Gesichtsform nennt man “Anteface” oder gerades Vorgesicht – kein Wangenfett, ein markanter Unterkiefer und ein Grübchen im Kinn sind hier die Schlüssel zum Erfolg. Diese Gesichtsform wurde mit der Zeit stereotypisch für eine bestimmte Art von Mann und wurde zum Sinnbild für die dominante Männlichkeit.
&Wie definiert unsere Knochenstruktur ausfällt, ist alles eine Frage der Gene. Und in der Vergangenheit konnte man da nicht wirklich was dran ändern. Aber dann kam Ende des letzten Jahrhunderts die kommerzielle plastische Chirurgie auf. Plötzlich konnte jeder sein Gesicht anpassen lassen – sofern natürlich das nötige Kleingeld vorhanden ist. Doch auch das Geld war irgendwann kein Problem mehr und das magische Wort hierbei lautet: Botox. Dank unseres technologischen Fortschritts entdeckten wir billigere und weniger invasive Verfahren. Injektionsfüller sind mittlerweile weltweit etabliert, besonders Hyaluronsäure ist derzeit super beliebt. Jeder kann jetzt eine Kinnpartie wie Superman haben, man muss bloß regelmäßig die Kreditkarte zücken – oder sich wie Ali die Knochen brechen lassen und dafür nur einmal zahlen.
Die Kieferchirurgie war ursprünglich eine korrigierende Maßnahme, die bei medizinischen Problemen oder bei Menschen für die Geschlechtsumwandlung genutzt wurde. Mit der Pandemie kam eine unerwartete Entwicklung, die der “Zoom-Effekt” genannt wird. Sich den ganzen Tag aus unvorteilhaften Winkeln anstarren zu müssen, hat bei vielen den Wunsch nach Veränderungen im Gesicht ausgelöst. So stieg die Nachfrage nach Beratungsterminen für kosmetische Eingriffe schlagartig exponentiell und sehr viele entschieden sich tatsächlich für die optische Veränderung – egal, ob operativ oder mit Spritzen. (Nach Angaben der “Aesthetics Society” erklärt der “Zoom-Effekt” den 55-prozentigen Anstieg der Zahl der Männer und Frauen, die sich im Jahr 2021 einer plastischen Gesichtsbehandlung unterziehen). Letztes Jahr schrieb der plastische Chirurg Dr. Richard Westreich in der Newsweek, dass Kinnimplantate sein zweithäufigster Eingriff bei Männern sind. Neben “der Submentoplastik, einer chirurgischen Straffung der Kieferlinie, die für mehr Definition sorgt” – das Ergebnis ist jugendlich, schlanker machend und allem voran Instagrammable.
&Genau dieser Effekt hat wirklich viele Männer dazu veranlasst, sich für injizierbare Behandlungen zu entscheiden. “Maskulinisierungs-Filler” werden jetzt von Kliniken als Mittagspausen Stop-and-Go-Eingriff vermarktet. Auf TikTok wimmelt es von Clips, in denen die Kieferpartie-Modellierung beworben und “männliche Model-Makeovers” gezeigt werden. Auf YouTube und Instagram beschäftigen sich Videos mit der “Regel der Gesichtsdrittel”, der Wissenschaft des idealen Profils und erklären den Goldenen Schnitt (angeblich sollte das perfekte Gesicht 1,618 Mal länger als breit sein). Start-ups wie “Qoves Studio” bieten mithilfe von KI “ästhetische Gesichtsbewertungen” an. Auf Reddit posten Männer zahlreich Vorher- und Nachher-Fotos zur öffentlichen Begutachtung. Wir schließen uns bei der Thematik dem Kommentar eines Users im “r/JawSurgery”-Channel an: “Ich weiß nicht, was die Ursache dafür ist oder woher die Leute die Idee haben, dass sie eine Kieferoperation brauchen, aber es ist alles außer Kontrolle.”
Diese Fixierung auf die Optik der Unterkiefer hat in der “Lookmaxing”-Community regelrechte Rabbitholes kreiert, endlos viele Beiträge, die man sich tagelang anschauen könnte. Ali schickt mir den Link zu einem Video mit dem Titel “How to rate the attractiveness of the eyes – part 3 (blackpill analysis)” [zu Deutsch: “Wie man die Attraktivität der Augen bewerten kann – Teil 3 (eine Blackpill-Analyse)]. In dem Video wird die Relevanz des Winkels des lateralen Kanthus (wo Ober- und Unterlid aufeinandertreffen) im Verhältnis zum medialen Kanthus diskutiert. Einer der ersten Kommentare ist so lang wie ein Essay mit der Quintessenz “Jaw is law” [zu Deutsch: Der Kiefer ist Gesetz]. Obwohl das natürlich nicht wirklich was mit Augen zu tun hat, passt es natürlich dennoch. Es repräsentiert die Kern-Philosophie der Community, und dieser Kommentar spiegelt die Obsession dieser Männer mit ihren Kiefern wider. Der User schrieb, dass ein schwacher Kiefer und ein schwaches Kinn die “tödliche Kombination” wären. Und betont allem voran, wie wichtig die Kierferwinkel sind – das sind die Ecken, an denen sich der Knochen zu den Ohren hinaufwölbt. Scheinbar ist das Ideal hierbei ein Grad zwischen 112- und 118. Ganz wichtiges Wissen.
#mewing ist ein Trend, der Männer durch Kau-Übungen zu “Alpha-Doms” machen sollIn anderen Threads werden Prominente wie Brad Pitt, David Gandy und Jeremy Meeks (das Model, das als “heißer Sträfling” dank seiner Polizeifotos weltberühmt wurde) für deren ausgeprägten Kiefermuskeln und Konturen regelrecht vergöttert. Die “Incels” nennen diesen Gesichtsbereich “das untere Drittel” und dies ist scheinbar essenziell für das Dasein als “Aplha”-Mann. Hier ein kurzer Steckbrief dieses Arche-Typs: Breiter, kantiger Kiefer und “Jägeraugen” – das war's schon. Mehr Inhalt hat diese Ideologie nicht wirklich. Viele der Anhänger verbringen reichlich Zeit mit dem “Mewing”: eine wissenschaftlich umstrittenen Reihe von Zungenübungen, die der britische Kieferorthopäde Jonathan Mew entwickelt hat und die angeblich die Kieferpartie stärken. Auf TikTok haben #mewing-Videos inzwischen über zwei Milliarden Aufrufe. Auch Unternehmen wie “Jawzrsize” haben sich den Trend zunutze gemacht und vermarkten einen Trainingsball aus Silikon, mit dem man sich durch Kauen zum “Aplha-Dom” entwickeln kann. Und wer möchte das bitte nicht?
Diese Art von Internet-Inhalten können schnell eine starke Wirkung auf Menschen haben. Insbesondere auf junge und unsichere Männer. Männer wie Ted. Ted (auch nicht sein richtiger Name) fand sein Gesicht schon immer als nicht ausreichend und als “untypisch”. Allerdings nicht in dem Ausmaß, das es ihn beunruhigen würde. Er bemerkte dies lediglich ab und an. Bei unserem ersten Videoanruf blitzt sein Gesicht ganz kurz auf meinem Bildschirm auf – blondes Haar und eine Brille, die ihn einen ziemlich putzigen Charme verleiht. Dafür entschuldigt er sich direkt und schaltet im Bruchteil einer Sekunde die Kamera aus. Ted wuchs in einem Vorort im Mittleren Westen der USA auf, besuchte dann Stanford und landete so im Silicon Valley. Sich selbst beschreibt er als “exzentrisch und unternehmerisch”, zumindest steht das so in seinen Dating-Profilen. Für seine Freunde ist er allerdings ein “Tech-Bro mit einer verzerrten Selbstwahrnehmung”.
&Für die Kieferchirurgie interessierte sich Ted, 27, anfangs tatsächlich rein aus medizinischen Gründen. Er litt unter einer Schlafapnoe, dabei werden die Atemwege wegen des Erschlaffen der Rechen-Muskulatur im Liegen blockiert. Dies führt zu lautem Schnarchen und einer Sauerstoff-Unterversorgung. Als er dann anfing, die möglichen operativen Maßnahmen zu recherchieren geriet er schnell in dieses “dunkle, makabre Internet-Rabbithole der Ästhetik”. Er postete dann, wie Ali zuvor auch, ein Foto seines Gesichts in einem Forum, “nur um zu fragen: ‘Hey, ist mein Gesicht vertieft?’.” Zu den daraufhin folgenden Kommentaren meint Ted: “Es hat mir jetzt nicht den Tag ruiniert oder Ähnliches. Aber es hat definitiv eine Woche lang ein wenig wehgetan. Und ich kann mir vorstellen, dass es einen 15-jährigen Jungen, der zufällig über so etwas stolpert, sehr wehtun würde.”
Ted wurde im Mai 2021 von Derek Steinbacher, einem führenden Kieferchirurgen in Connecticut, operiert. Er ist immer noch ziemlich aufgeregt. Das erste Mal, dass er sein Gesicht danach sah, war, als er aufstand, um auf die Toilette zu gehen, in den Spiegel schaute und “ein Alien” in der Spiegelung sah. Dann stellte er fest, dass er durch den ganzen Raum Blut gepisst hatte, da ihm während der Operation ein Katheter gelegt wurde. Und er hatte quälende Schmerzen, da nun mal sein Gesicht vor fünf Stunden aufgeschnitten wurde.
&"Ihr könnt mich hier ruhig zitieren. Die Incels hatten Recht."- Ted
Jetzt sagt Ted, “ist die Kieferchirurgie mein Gesprächsthema Nummer 1 auf Partys”. Obwohl er zwar noch keine drastischen und lebensverändernden Entwicklungen bemerken konnte, weder in der Karriere noch in Sachen romantischer Beziehungen (oder zumindest noch nicht), fühlt er sich dennoch deutlich selbstbewusster. Einen subtilen Unterschied hat er allerdings bereits in der Art und Weise, wie die Leute ihn im Alltag behandeln, durchaus wahrgenommen. Seine Freunde nennen ihn jetzt beispielsweise “Chad”. “Ihr könnt mich hier ruhig zitieren. Die Incels hatten Recht”, sagt er uns.
Wir sprachen mit einer weiteren Person. Nennen wir ihn mal Miguel – es ist natürlich ebenfalls nicht sein richtiger Name. Miguel ist Mitte 30, lebt in Spanien und arbeitet in der Tourismus-Branche. Die “Looksmaxing”-Community entdeckte er im Jahr 2020 für sich. Und zwischen all den “Trollen und sexlosen Teenagern” fand er die technischen Diskussionen über die Ästhetik sehr interessant: Die Wichtigkeit der Verhältnisse im Gesicht, die Operationen, die Anatomie an sich und natürlich, wie der Kiefer “ein Gesicht ausmacht oder zerstört”. Wie Ted hatte auch Miguel schon immer das Gefühl, dass mit seinem Aussehen etwas nicht stimmte, konnte aber bis dahin nicht sagen, was es war. “Leider wurde ich mir durch dieses Wissen um meine Fehler noch bewusster”, sagt er. “Ich erfuhr auch etwas über Kieferchirurgie, von der ich vorher nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Mir war sofort klar, dass ich das machen lassen musste.”
&Es gibt eine Reihe von spezialisierten Kieferchirurgen rund um den Globus, die als Meister der Kieferchirurgie gelten. Professor Hermann Sailer in der Schweiz, Professor Mirco Raffaini in Italien und Dr. Paul Coceancig in Australien. Die Namen kursieren in den Foren und gehen den Leuten, mit denen ich spreche, mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit über die Lippen. Miguel wusste, dass er sich an einen der Besten wenden wollte, also buchte er einen Termin bei Dr. Federico Hernández Alfaro im “Instituto Maxilofacial” in Barcelona.
&Das Teknon Medical Center ist ein palastartiges Privatkrankenhaus in einer der noblen Gegenden Barcelonas. Es ist umgeben von einem Labyrinth aus Hecken und Palmen, die einen kunstvollen Weg zum Eingang des Gebäudes bilden. Das Büro von Dr. Federico Hernández Alfaro, dem Leiter des “Instituto Maxilofacial”, befindet sich im obersten Stockwerk. Es sei das Beste im ganzen Krankenhaus, sagt er. Es ist ein gläserner Eckraum mit Blick auf die Skyline, auf die Bäume und auf die sonnenüberfluteten Dächer, die zum Mittelmeer hin abfallen. An der hinteren Wand steht ein Bücherregal, das mit anatomischen Schädel- und Kieferknochen-Abbildungen dekoriert ist. Dazu gesellen sich bunt bemalte Keramik-Calaveras (dekorative Schädel), Mitbringsel aus Alfaros regelmäßigen Urlauben in Mexiko.
Wenn man sich einen typischen, fast schon klischeehaften Schönheitschirurgen vorstellen würde, dann hätte man direkt ein Bild von Alfaro im Kopf. Perfekte Haut, strahlend weiße Zähne und natürlich eine Rolex am Handgelenk. Er ist charmant, selbstbewusst, sportlich – die Art von Mann, die viele andere Männer gerne wären. In seiner Freizeit geht er gerne Kitesurfen, ein Zeitvertreib, den er sich nach einer Scheidung angeeignet hat (“Manch andere Menschen entscheiden sich für eine Therapie”, witzelt er). An manchen Tagen fährt er mit seinem Roller vom Krankenhaus an die Küste, um sich den Wind um die Nase wehen zu lassen.
&Alfaro hat in seiner Karriere bereits rund 5.000 Operationen durchgeführt. In der Vergangenheit, so sagt er, waren die meisten Eingriffe zur Behebung schwerwiegender Probleme mit dem Gebiss oder von Atemproblemen wie Schlafapnoe. Doch immer wieder fragten ihn Patienten: “Ich weiß, dass Sie meinen Biss reparieren können, aber können Sie auch mein Gesicht verschönern?” Im Laufe der Jahre hat Alfaro deshalb seinen eigenen “orthofacialen” Ansatz entwickelt. Seiner Meinung nach lassen sich die Verschönerungen, die andere mit Botox, Fillern, Implantaten und Lifts vornehmen, mit einer geschickten Technik am Schädel beheben. Eine Neupositionierung des Kiefers, so erklärt er, kann das Gesicht “harmonisieren”. Eine nach vorne verschobene Kieferpartie kann eine große Nase ausgleichen, die Lippen aufplustern und ein Doppelkinn verschwinden lassen.
Alfaro führt derzeit rund 200 “orthofaciale” Operationen im Jahr durch. Die Zahl seiner Patienten hat sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt, vor allem dank des Zustroms internationaler Patienten. Früher waren es mehrheitlich Frauen, heute ist die Verteilung eher 50/50: “Genauso wie Männer jetzt mehr auf ihre Hautpflege und ihre Kleidung achten, denke ich, dass das gleiche Muster auch bei der Gesichtsästhetik gilt”, sagt er.
&"Immer mehr Patienten kommen zu mir und sagen, dass sie kein Foto von sich auf Instagram hochladen können, ohne es zu bearbeiten"- Dr. Federico Hernández Alfaro
Die meisten seiner männlichen Patienten, sagt Alfaro, sind Anwälte, Ingenieure und Ärzte. Aber auch Angestellte aus dem Tech-Bereich machen einen großen Teil seiner internationalen Kundschaft aus: “Sie verbringen ihr Leben vor dem Computer und können supereinfach die richtigen Ressourcen und Anlaufstellen recherchieren”, sagt er. “Sie kommen und sagen: 'Ja, Herr Doktor, ich brauche eine Kiefergelenksverlagerung mit einer Drehung gegen den Uhrzeigersinn und eine Genioplastik von sechs oder sieben Millimetern...' Sie sind in der Lage, ihre Gesichter [autodidaktisch, Anm. d. Red.] in einem solchen Ausmaße zu studieren, dass es mir manchmal Angst macht.”
Die Pandemie hat diesen Effekt noch deutlich beschleunigt. Alfaro erzählt mir von einem Patienten, der nicht wusste, dass er ein “Problem” hatte. Bis er stundenlang vor dem Computer saß und wegen Zoom-Calls konstant auf seinen schwachen Unterkiefer und sein Doppelkinn starrte: “Immer mehr Patienten kommen zu mir und sagen, dass sie kein Foto von sich auf Instagram hochladen können, ohne es zu bearbeiten”, teilt er.
&Bis vor kurzem würden die meisten Menschen eine solch schwerwiegende Operation nur aus medizinischen Gründen vornehmen lassen. Im äußersten Notfall eben. Die Patienten würden Stunden im OP verbringen, bräuchten wahrscheinlich eine Bluttransfusion und würden Wochen bis Monate brauchen, um sich von dem Ganzen zu erholen. Doch Alfaro kann Ober- und Unterkiefer in 90 Minuten neu positionieren. Die Patienten werden in der Regel am nächsten Morgen entlassen. Er ist stolz auf seine Arbeit und lädt mich ein, ihm dabei zuzusehen.
&Ein Operationstag beginnt für Alfaro mit einer kalten Dusche und einem Gang ins Gym. Heute ist es nicht anders. Er kommt mit einem klaren Kopf in den Operationssaal und legt zuerst sein Handy und seine Rolex auf einen Tisch. Anschließend zieht er seine Stirnlampe auf und gönnt sich einen kurzen Moment der mentalen Meditation, während er auf den Boden schaut. Ein junger Mann wird auf einem Bett hereingerollt, und der Narkosearzt legt ihm eine Maske auf das Gesicht. Auf einem Monitor ist ein Foto seines lächelnden Gesichts zu sehen, daneben 3D-Scans seines Schädels. Dieser Patient ist hier, um seinen Kiefer vorverlagern zu lassen: “Aus ästhetischen Gründen braucht er auch eine Nasenkorrektur”, sagt Alfaro, “aber er wird zuerst das Ergebnis dieses Eingriffes begutachten.” Das Team macht sich an die Arbeit, dreht Pirouetten umeinander, während sie Lidocain und Adrenalin spritzen. Ein Tisch mit beunruhigenden Instrumenten wird herangerollt: “Haben Sie schon gefrühstückt?”, fragt Alfaro mich und greift nach dem Ultraschallskalpell.
&Die Operation erfolgt durch den Mund. Zuerst werden die Weisheitszähne entfernt. Anschließend wird der Unterkiefer durchtrennt, was eine ordentliche Geräuschkulisse erzeugt. Alfaro bittet darum, die Musik lauter zu machen – es läuft Britpop und Indie-Musik – und greift dann zu Hammer und Meißel. “Ich sehe mich als einen raffinierten Zimmermann”, sagt er. Mit einem Knacken, das ein wenig an das Geräusch beim Hummer-Essen erinnert, löst sich der vordere Teil des Unterkiefers vollständig ab. Alfaro schiebt ihn mit einer Schiene nach vorne, um ihn an den Oberkiefer anzupassen, und fixiert ihn mit Titanplatten, die im Körper verbleiben können. Das gleiche Verfahren wird mit dem Oberkiefer durchgeführt, den Alfaro über einen kleinen Schnitt im Zahnfleisch abtrennen kann. Dies ist Teil einer Reihe von “minimalinvasiven” Techniken, die die Genesung beschleunigen. Eine Symphonie verschiedenster Operationsgeräusche folgt. Im Hintergrund ertönt “Shark Smile” von “Big Thief”. Der Oberkiefer wird dann mit einer weiteren Schiene positioniert und fixiert.
Zur Melodie von “Common People” von “Pulp” rasiert Alfaro einen Block künstlichen Knochens ab, um die Lücke im Kiefer zu schließen, und wir sind fertig. Er schaut auf die Uhr. Eine Stunde und 32 Minuten. “Sehen Sie, dass seine Nase jetzt nicht mehr so groß ist”, sagt Alfaro und bewundert seine Arbeit, “und seine Lippen sind vorgewölbt.” Dem Patienten wird eine Kaltwassermaske aufgesetzt, und er wird in den Aufwachraum gerollt. In etwa 30 Minuten ist es direkt Zeit für den nächsten Eingriff.
&"Wir haben oft Patienten, die zu viel von einer Operation erwarten. Ich kann Ihre Persönlichkeit nicht ändern."- Dr. Federico Hernández Alfaro
Nach den Operationen hat Alfaro immer Appetit (er meint, dass er durch die hohe Konzentration sogar an Gewicht verliert). So gehen wir nach der vollbrachten Arbeit gemeinsam in einem privaten Fitnessclub, der nebenan ist, zu Mittag essen. Ich frage ihn, ob er bereits auf Leute der “Lookmaxing”-Community oder auf “Incels” gestoßen sei. “Ich glaube, wir haben bereits von einigen dieser Leute gehört”, meint er. Manchmal kommen Leute mit 20 Star-Fotos auf ihren Handy an und wollen genauso aussehen wie die gezeigte Promi-Vorlage. Manche wollen sogar ihre ethnische Herkunft verstecken oder ändern. Oder sie wollen radikale Veränderungen, die schlichtweg unmöglich umzusetzen sind. Maya Martinez, Alfaros Marketingassistentin, erzählt mir, sie würden versuchen, solche Fälle frühstmöglich zu erkennen. Diese Menschen empfehlen sie dann an einen Psychologen weiter. Aber psychische Probleme oder Menschen mit Körperdysmorphien wirklich zu erkennen, ist eine der größten Herausforderungen für Schönheitschirurgen. Mir wurde gesagt, dass das Instituto etwa 15 Prozent der potenziellen Patienten abweist.
Doch was ist mit denjenigen, die fest daran glauben, die Operation würde ihr ganzes Leben verändern beziehungsweise verbessern? “Es kommt vor, dass mache Patienten, wenn sie nach der Operation ein konventionell attraktives Gesicht haben, im Leben besser abschneiden”, meint Alfaro. “Aber wenn das ihr Hauptziel ist, kann ich das nicht garantieren. Ich kann Ihre Knochen in die optimale Position bringen, um Ihre Gesichtsästhetik zu maximieren, aber es gibt einige Dinge in Ihrem Gesicht, die nicht verändert werden können. Und wir können nichts an ihrem Gehirn und Denken mit der Operation verändern.” Er schneidet elegant ein Stück Brathähnchen von seinem Teller und nimmt einen Bissen. “Wir haben oft Patienten, die zu viel von einer Operation erwarten”, sagt er. “Ich kann Ihre Persönlichkeit nicht ändern.”
Sechs Stunden, nachdem er den Papierkram unterschrieben hatte, kam Ali aus dem Operationssaal in Rom heraus. Er kam wieder zu Bewusstsein und fühlte sich erstaunlich energiegeladen, konnte aber weder gehen noch auf die Toilette oder essen. Er zeigt einige Fotos von sich nach der Operation, sein geschwollenes Gesicht ist in Verbände eingewickelt. Ein Schopf zerzaustes Haar ist sichtbar, der Rest nicht. Dunkles Blut sammelt sich um seine Nase. Er zeigt auch einige seiner “Vorher”-Fotos, Porträts, die er für sein Dating-Profil verwendet hat. Er ist sehr gepflegt, trägt ein gemustertes Hemd und posiert in einem Park. Er sieht süß und ernst aus, auch wenn er sich in seiner eigenen Haut ein wenig unwohl fühlt. Es ist eine verletzliche Gestalt.
&"Ich fing an, mit mir mental zu kämpfen und dachte: Was habe ich getan?"- Ali
Ali verbrachte den ersten Tag mit Videotelefonaten mit seinen Freunden und seiner Familie, dann wurde er entlassen, um sich noch ein paar Tage in seinem Airbnb zu erholen. Dort, so erzählte er mir, verbrachte er viel Zeit damit, in den Spiegel zu schauen. Als er sein geschwollenes, in Verbände eingewickeltes Gesicht sah, spürte er, wie seine Angst immer größer wurde: “Ich habe mich auf ein großes Risiko eingelassen”, sagt er, “ich fing an, mit mir mental zu kämpfen und dachte: Was habe ich getan? Ich habe mir mein ganzes Gesicht kaputt gemacht, um besser auszusehen, und jetzt sehe ich nicht einmal besser aus”, sagt er, und alles, was er tun konnte, war, viel Flüssigkeit zu trinken und zu warten, bis die Schwellung zurückging.
Die Liebe und das Streben nach ihr hat sich noch nie so transaktional angefühlt, wie es heute der Fall ist. Es wirkt oft fast schon wie ein Handel auf dem Marktplatz. Auf Dating-Apps und auch in den sozialen Medien bewerben wir uns alle selbst so, als wären wir Marken oder Produkte, die um die Investition anderer kämpfen – in diesem Fall die Hingabe potenzieller Partner. “Man hat eine fast unendliche Auswahl”, sagt Ruth Holliday, Professorin für Gender und Kultur an der Universität von Leeds. “Gleichzeitig versucht jeder, seine eigenen Möglichkeiten zu maximieren.”
“Und einige Männer sind davon ausgeschlossen”, fährt sie fort, “sie fallen ganz unten durch, weil sie keinen guten Job oder kein stabiles Einkommen haben. Sie sehen auch nicht besonders gut aus, und dann ziehen sie sich zurück und werden zu ‘Incels’ und ärgern sich vom Rande aus über Frauen auf.”
&Die Ideologien der roten und schwarzen Pille können diese Ressentiments nutzen, sie auflodern lassen und die Menschen absichtlich in die Verzweiflung treiben. Für diejenigen, die sich als “Incels” bezeichnen, ist die schwarze Pille eine besonders nihilistische Wahrheit, die es zu schlucken gilt. Sie kann zu Selbstmordgedanken, Gewalt und sogar zu Terrorakten führen: 2014 tötete ein Bewaffneter sechs Studenten an der “University of California”, bevor er sich selbst tötete, nachdem er in einem Post seine Unfähigkeit, eine Beziehung einzugehen, beschrieben und sogar zu weiterer Gewalt gegen Frauen aufgerufen hatte. Der Aufruf wurde von einem anderen Angreifer aufgegriffen, der 2018 in Toronto 10 Menschen mit einem Lieferwagen tötete. Im Jahr 2021 tötete ein “Incel” fünf Menschen in Plymouth. Die Fixierung auf diese Vision der Männlichkeit, die einige Männer dazu bringt, sich für eine Kieferoperation zu entscheiden, kann andere hingegen offensichtlich zu extremen Hass führen.
Manosphere-Communities haben ihre Wurzeln oft in einheitlichen Wahrnehmungen von Einsamkeit, Unsicherheit und dem Gefühl, entmachtet zu sein. Es ist dieselbe Angst, die eine Rekordzahl von Männern dazu bringt, für Haartransplantationen, Botox und sogar Beinverlängerungs-Operationen zu zahlen: der Wunsch, gesund, jugendlich und wettbewerbsfähig auszusehen. Vorurteile aufgrund des Aussehens gibt es wirklich (auch wenn sie zweifellos am stärksten in Form von Rassismus oder von Menschen mit Behinderungen oder Missbildungen zu spüren sind). Aber selbst der Wirtschaftswissenschaftler Daniel Hamermesh, der diesen Effekt in seinem Buch “Beauty Pays” quantifiziert hat, kam zu dem Schluss, dass Investitionen in das Aussehen, sei es durch Operationen, Mode oder Kosmetika, in der Regel nur eine begrenzte Rendite abwerfen: “Schlechtes Aussehen”, schrieb er, “ist kein entscheidender Nachteil, nichts, was wir durch unser eigenes Handeln nicht zumindest teilweise überwinden können, und nichts, dessen Last so überwältigend sein sollte, dass sie unseren Geist erdrückt.” Wie Kjerstin Gruys, Autorin von “Mirror Mirror Off the Wall”, sagte, haben die Menschen an den extremen Enden der Schönheitsskala zwar sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen, aber die meisten von uns sind (leider ... oder zum Glück) einfach ziemlich durchschnittlich.
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“Ich hoffe, Sie erkennen das moralische Dilemma”, schrieb Ali in einer E-Mail voller Links zu entsprechenden Videos und Artikeln, “Das Aussehen beeinflusst unser Leben, das ist sicher, aber in welchem Maße? Ist es das wert, es zu ändern? Und unter welchen Umständen ist es das nicht?”
Die Tatsache, dass Männer nun zunehmend sensibler Ängste empfinden – und auch Maßnahmen gegen diese Ängste in Angriff nehmen –, die lange Zeit als “Frauen-Sachen” abgestempelt wurden, ist ein Zeichen für die sich wandelnde Vorstellung von Männlichkeit. Und obwohl die Manosphere die Kieferchirurgie als Chance verkauft, die bedrohte “Alpha”-Männlichkeit zurückzuerobern, sind die Beweggründe für Männer, sich kosmetischen Eingriffen zu unterziehen, so unterschiedlich wie die Männer selbst.
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Für Sam Batterbury, 23, ein Animateur aus Kanada, war die Entscheidung für eine Kinn- und Nasenoperation eine Tat, die seinem Selbstbewusstsein geholfen hat: “Ich lebe gerne ungezügelt, und ich denke, in unserer Kultur ist es ungezügelt, sich einen Haufen Silikon ins Kinn spritzen zu lassen”, sagt er. Sam ist bisexuell; die Ikonen, zu denen er aufschaut – Prince und Bowie – haben schon vor Jahrzehnten das normative Männerbild infrage gestellt und sind weit entfernt von Leuten wie Andrew Tate (der, wie viele “Lookmaxer” betonen, tatsächlich einen fliehendes Kinn hat). Außerdem sagt er mir: “Ich finde, man sollte sich ruhig selbst besser fühlen dürfen, solange es auch wirklich nur darum geht, sich selbst besser zu fühlen.”
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Lifestyle
Soziale Medien beeinflussen schon seit langem Schönheitsideale. Doch nun geht das ganze noch einen Schritt weiter. Schönheitsoperationen sind jetzt Trends.
Michéll Miodek, 35, aus Schweden, unterzog sich einer Kieferoperation als Reaktion auf seine lähmende Unsicherheit bezüglich seines Aussehens, die sich sein ganzes Leben lang auf seine psychische Gesundheit ausgewirkt hatte. Er erinnert sich daran, dass er auf der Straße verspottet wurde und im Auto Angst bekam, wenn er mit Leuten sprach, weil sie sein Profil sehen konnten. Er entschied sich für den Eingriff, nachdem er auf Instagram über eine Werbung für Alfaros Klinik gestolpert war. Er trug noch eine Zahnspange, als er zu seinem ersten Date nach der Operation ging, aber er fühlte sich selbstbewusst genug, um zu erklären, was er durchgemacht hatte. Die beiden verstanden sich auf Anhieb; inzwischen sind sie verheiratet und erwarten ihr erstes Kind.
&Als ich Michéll auf das “Lookmaxing” anspreche, schaut er mich verständnislos an. Er hatte noch nie davon gehört. Aber die meisten Männer, mit denen ich gesprochen habe, sind der Anziehungskraft von Online-Communities, die vor Frauenfeindlichkeit nur so strotzen begegnet. Frauen (die nach wie vor bei Weitem die meisten kosmetischen Eingriffe in Anspruch nehmen) werden ständig zu Körperdysmorphie und Selbstverachtung gedrängt, aber es ist besonders beunruhigend, dass so viele Männer Trost in Gemeinschaften suchen, denen es an Empathie für genau die Menschen mangelt, die sie anziehen wollen. Es ist nicht immer klar, wo Ali wirklich zur Geschlechterdynamik steht, nachdem er so viel Zeit in diesen Räumen verbracht hat. Ich frage ihn, ob er aufgrund seiner Erfahrungen mehr Mitgefühl für Frauen und deren Stress entwickelt hat: “Ich kann die Schwierigkeiten verstehen”, sagt er, “ich habe viel Mitgefühl für Menschen, die nicht gut aussehen.”
&Ein paar Wochen später treffe ich Ali wieder. Er ist im Haus seiner Mutter, erholt sich gut und fühlt sich mit seinem neuen Gesicht wohler – und selbstbewusster – als zuvor. Er trägt einen grauen Hoodie und einen Bart, für den er sich entschuldigt. Seine Knochen sind immer noch zu empfindlich für eine Rasur. Er sieht ein wenig geschwollen aus, aber die Veränderung ist offensichtlich: Die Konturen seines unteren Drittels sind deutlicher ausgeprägt. Ich frage ihn, ob er mit dem Ergebnis zufrieden ist: “Na ja, es hätte noch weiter gehen können”, sagt er und reibt sich die Borsten. “Mein Chirurg war konservativ.” Aber er würde es nicht noch einmal machen lassen, selbst wenn das Ergebnis besser wäre. Er habe die psychologischen Auswirkungen der Operation unterschätzt, sagt er mir. Es waren ein paar schwierige Wochen für ihn.
Ich frage ihn, ob die Foren einen Teil der Verantwortung dafür tragen: die Normalisierung invasiver medizinischer Eingriffe. Er nickt: “Die Leute reden viel zu leichtfertig über Operationen”, sagt er, “die Leute sagen: ‘Mach es einfach, dann siehst du besser aus.’” Oft verbirgt dieser blasierte Ansatz tiefere Probleme. Ali wurde kürzlich von einem jungen Mann kontaktiert, der sich über seine Operation erkundigte. Er sagte, er mache sich Sorgen wegen der Kosten, sei aber so deprimiert, dass er sich umbringen wolle, wenn er sich nicht bald operieren lasse. “Was antwortet man auf sowas?”, fragt Ali zu Recht.
&Ali ist jedoch optimistisch. Es vergingen noch ein paar Wochen, und sein psychischer Zustand hat sich deutlich gebessert. Er hat das Gefühl, dass die Leute ein bisschen netter zu ihm sind, dass Fremde ihm Komplimente machen, was vorher nicht der Fall war. Er meint, dass er nun sogar angeflirtet wird. Kürzlich starrte ihn eine ältere Frau im Fitnessstudio länger an. Das war ihm unheimlich: “Ich fühlte mich irgendwie sexualisiert.”
In letzter Zeit verbringt er weniger Zeit in den “Looksmaxing”-Foren: “Die Hälfte der Beiträge im Forum gefällt mir nicht mehr”, sagt er. “Ich habe mir einen Podcast angehört, in dem der Moderator eine interessante Bemerkung darüber gemacht hat, dass man in diesen Foren wie ein Dieb sein muss – man stiehlt alle Informationen und verlässt dann die Gemeinschaft, damit man nicht vergiftet wird ... man muss hineingehen und die winzige Menge herausnehmen, die nützlich ist und dann verschwinden.” Er hat Pläne, eine Beratungsfirma zu gründen, die Männern, die besser aussehen wollen, helfen soll. Dabei möchte er alles nutzen, das er in den letzten Monaten gelernt hat.
&"Ich glaube, ich habe alles getan, was ich für mein Aussehen tun kann. Jetzt geht es nur noch um meine Persönlichkeit."- Ali
Ali hat jetzt einen Lebensberater. Und einen Dating-Coach. Letzterem hat er seine alten Dating-Profil-Fotos gezeigt, und der Coach konnte keinerlei Probleme mit seinem früheren Aussehen erkennen, was ihn zwar beruhigte, ihn aber auch fragen ließ, woran es lag, dass er keine Partner fand. Er freut sich darauf, mehr soziale Kontakte in der realen Welt zu knüpfen. “Ich habe versucht, meine Hobbys zu rekonstruieren, weil ich zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht habe”, sagt er. “Ich versuche, mich neu zu erfinden.” Er erzählt mir von einem Schauspielkurs, den er kürzlich besucht hat: “Wir mussten unsere Emotionen mit unseren Bewegungen verbinden. Wenn man zum Beispiel dominant ist, geht man auf eine bestimmte Art und Weise, man spricht auf eine bestimmte Art und Weise. Dann haben wir auch die Elemente erforscht: Erde, Wasser, Feuer. Und Vergebung.” Er musste den Unterricht wegen seiner Operation unterbrechen, aber er will unbedingt wieder mitmachen.
“Ich glaube, ich habe alles getan, was ich für mein Aussehen tun kann”, sagt er. “Jetzt geht es nur noch um meine Persönlichkeit.”
Will Coldwell ist Journalist und lebt in London.
Artikel im Original bei GQ UK erschienen, adaptiert von Daniel Bilinski
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